Sebastian Bather, Archäologie der westlichen Slawen: Siedlung, Wirtschaft und Gesellschaft im früh- und hochmittelalterlichen Ostmitteleuropa, Walter de Gruyter, 2nd ed. 2008 (1st ed. 2001), 978-3-11-020609-8:
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Wenn auch die Archäologie des Mittelalters weitgehend auf den Begriff der „Kultur“ im Sinne regionaler Gruppierungen verzichtet und hauptsächlich die prähistorische Forschung damit arbeitet, sind ihr diese Vorstellungen dennoch nicht fremd, um kulturell zusammengehörige Räume zu beschreiben. J. Herrmann beschritt diesen Weg bei der Rekonstruktion der slawischen Einwanderung in die Gebiete westlich von Oder und Neiße.10 Die dazu benutzte Kombination von Keramikformen, Haus- und Burgentypen sowie Bestat9 Jones [Nr. 156] 139. 10 Herrmann [Nr. 21] 39–77; ders. [Nr. 174]; ders. [Nr. 175]; Die Slawen in Deutschland [Nr. 48] 28 Abb. 8. Ethnische Interpretation tungssitten stellt eine Addition von Einzelelementen dar, ohne daß sich ein zwingender innerer Zusammenhang dieser Elemente erkennen ließe. Im nächsten Schritt werden „archäologisch-kulturelle Gebiete“ postuliert, die den bekannten „Kulturen“ entsprechen. Dabei offenbart schon die Bezeichnung dieser Gruppen (Sukow-Szeligi-, Feldberg-Golancz-, Tornow-Gostyn-, Rüssener und Prager Gruppe), daß als wesentliches Kriterium Keramikstile dienen – d. h. ein isoliertes Element der Sachkultur. Bei genauerem Hinsehen stellen sich aber diese Differenzierungen als voneinander unabhängige Regionalentwicklungen heraus, die sich erst einige Zeit nach der Einwanderung durch unterschiedlichste Einflüsse ergaben (Kap. III), also im Verlauf des Frühmittelalters entstandene kulturelle Binnendifferenzierungen Ostmitteleuropas beschreiben.
Auch alle Bemühungen, „Stammesgebiete“ innerhalb der frühmittelalterlichen Siedlungsräume zu identifizieren, scheiterten bislang an methodischen Problemen.11 Politisch-ethnische Gruppierungen, die sich rasch verändern können, lassen sich nicht eindeutig mit großräumigen Keramikstilen, Grabsitten, Hausformen und Burgentypen, die sämtlich strukturelle Erscheinungen sind, verbinden. Darin liegt das grundlegende heuristische Dilemma aller Versuche, von der Sachkultur zur Gesellschaftsstruktur zu gelangen. Das Modell der „sozialökonomischen Gebiete“ bzw. „archäologisch-kulturellen Gebiete“ im Sinne J. Herrmanns ging zwar in der Zielvorstellung über das Konzept der „archäologischen Kultur“ hinaus, blieb aber methodisch in demselben traditionellen Interpretationsrahmen befangen
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Die Verbreitung der Grubenhäuser2 und der Urnengräber3 erstreckt sich interessanterweise entlang der südlichen und südwestlichen „Peripherie“ des slawischen Siedlungsraumes – zwischen dem byzantinischen Kulturraum südlich der Donau und den von den Sudeten bis zu den Karpaten reichenden Höhenzügen. Nördlich der Mittelgebirge finden sich dagegen ebenerdige Bauten4 und oberflächennahe Leichenbrandschüttungen, beides archäologisch nicht leicht nachzuweisen. Nachdem auch regionale Differenzierungen bei den Gefäßproportionen und Keramikstilen sowie hinsichtlich des Burgenbaus erkannt worden waren, schloß man daraus auf unterschiedliche Einwanderergruppen und Einwanderungsrichtungen5. Diesem Modell lag die Vorstellung großer, homogener Wandererverbände zugrunde, die als geschlossene Gruppen auch den Raum zwischen Oder und Elbe erreicht hätten.6 Das mehrfache Vorkommen ethnischer Bezeichnungen wie die der Abodriten, Serben/Sorben und Kroaten, einerseits im mittel- und andererseits im südosteuropäischen Raum, beruht nicht auf der Aufspaltung großer „Stammesverbände“. Es belegt lediglich den Rückgriff auf die gleichen Namentraditionen, wenn die Quellen nicht überstrapaziert werden sollen; meist stammen die entsprechenden Erwähnungen erst aus dem 9. und 10. Jahrhundert. Nun haben sich nicht nur die Vorstellungen über den Ablauf von Ethnogeneseprozessen gewandelt, auch die archäologische Einordnung des Fundmaterials erscheint in neuem Licht. So kennzeichnen z. B. nicht verschiedene, Abb. 7. Verbreitung der frühslawischen Brandgräber mit Urnen des Prager Typs und der frühslawischen Grubenhäuser im östlichen Europa. Beide kulturellen Merkmale erstrecken sich hauptsächlich auf den Mittelgebirgsraum im Süden und sparen das ostmitteleuropäische Flachland weitgehend aus. In der Ukraine – zwischen Bug und Dnepr – erstrecken sich Grubenhäuser und Urnengräber dagegen im Flachland (nach Herrmann [Nr. 174] Abb. 3) Herkunft und Einwanderung der Westslawen sondern identische Traditionen Hausbau und Bestattungssitten. Häuser wurden überall als Blockbauten errichtet, für die die ausgedehnten ost(mittel)-europäischen Nadelwälder die benötigten geraden Stämme lieferten – im Süden und Osten aus klimatischen Gründen und aufgrund der Bodenverhältnisse als Grubenhäuser eingetieft; im Norden und Westen erforderten Klima und Boden dagegen eine ebenerdige Bauweise. Die Toten wurden grundsätzlich verbrannt, nur anschließend wurde mit ihnen unterschiedlich umgegangen: im südöstlichen Bereich gab es Urnengräber, im Nordwesten bevorzugte man Brandgruben- bzw. Brandschüttungsgräber in Oberflächennähe. Zwar unterscheidet sich der zwischen Elbe und Weichsel verbreitete, unverzierte Sukow-Dziedzice-Typ vom Prag-Kor¹ak-Typ durch eher bauchige Proportionen, doch sind dies – bei unterschiedlichen Datierungsschwerpunkten – eher tendenzielle als scharfe Abgrenzungen. Bei anderen Formen wie der Feldberger oder der Tornower Keramik hat sich die Datierung in die Einwanderungszeit als irrig erwiesen; beide Formen gehören erst in die Karolingerzeit bzw. das 9. und 10. Jahrhundert und reflektieren erheblich spätere regionale Stilentwicklungen. Auch der Burgenbau geht nicht auf die Einwanderungszeit zurück, sondern hängt mit sozialen Differenzierungsprozessen seit dem 8. Jahrhundert zusammen.